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Von S5 ins Nichts: Das Leben als Geister-Fan

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Das vollbesetzte RheinEnergieStadion aus der Sicht von S5. (Foto: GBK)

Stell dir vor, es ist Heimspiel und keiner geht hin. Eigentlich unvorstellbar. Doch genau das passiert seit genau einem Jahr in allen Fußball-Stadien der Bundesliga. Das Spiel gegen Werder Bremen war für den 1. FC Köln das 34. Geisterspiel, also eine komplette Bundesliga-Saison ohne Zuschauer. Die Bilanz ist uns inzwischen leidvoll bewusst: 26 Punkte, 35:67 Tore. Die Zahlen eines Absteigers. Am 11. März 2020, also vor exakt 365 Tagen, traten die Geißböcke erstmals vor leeren Rängen an. Doch wer leidet eigentlich mehr darunter? Ein Bericht aus der Sicht einer Daheimgebliebenen. 

Ein persönlicher Rückblick von Sonja Eich 

Es ist Wochenende. Samstagmorgen. Heimspiel. Auf meinem Weg zum Bäcker fallen mir die ersten Menschen im FC-Trikot auf. Nichts ungewöhnliches. Man kennt sich nicht, grüßt sich aber so, als wäre man seit Jahren befreundet. Schließlich eint uns ein Gefühl und wir wissen, dass sich unsere Wege einige Stunden später vielleicht wieder kreuzen werden. Im altehrwürdigen Müngersdorfer Stadion.

Wenn Fremde zu Freunden werden

Doch zunächst geht es für mich mit der warmen Brötchentüte in der Hand zurück nach Hause. Frühstücken, Kaffee trinken, mental vorbereiten. Es sind noch rund fünf Stunden bis zum Anpfiff und ich fange an zu überlegen, wann ich mich fertig machen und aus dem Haus gehen muss, damit alles seinen richtigen Ablauf hat. Ich überlege, wie warm es wohl werden wird und ob ich die Jacke zuhause lassen kann. Um 14 Uhr entscheide ich mich das Risiko einzugehen. Ich schalte den Fernseher aus, wo der Hamburger SV in der besten Zweiten Liga aller Zeiten zurückliegt und gerade dabei ist, erneut auf den vierten Platz abzurutschen. Im kurzärmligen Trikot – aber natürlich mit Schal – checke ich noch kurz, ob die Dauerkarte auch wirklich in der Tasche ist und trete schließlich vor die Tür.

Ich nehme wahr, dass der Verkehr bereits zugenommen hat und viele vollbesetzte Autos auf der verzweifelten Suche nach einem Parkplatz sind. Gleichzeitig bin ich froh, dass ich nicht in der dicht gedrängten Linie 1 stehen muss, wobei man sich nie sicher sein kann, ob der süßliche Geruch in der Nase von seinem Nebenmann oder dem klebrigen Boden der umgekippten Bierflasche kommt. Mein Weg führt mich zu Fuß in Richtung RheinEnergieStadion. Ich gehe ein paar Mal um die Ecke, überquere die große Kreuzung und biege auf den Kölner Weg ein. Nicht selten werde ich dabei von größeren Fan-Gruppierungen überholt, die bereits mit Trommeln und großen Blockfahnen in Richtung Südkurve ziehen. Aber nicht heute, dafür bin ich bereits zu spät dran.

Je näher ich dem Kreisverkehr komme, an dessen Ecke der beliebte Fan-Treffpunkt Birkenhof seinen Außenbereich geöffnet hat, umso mehr FC-Fans sehe ich bereits. Auch hier läuft die Zweite Liga. Ich werfe einen kurzen Blick darauf, entscheide mich dann aber weiterzuziehen. Kurze Zeit später passiere ich den Kiosk “Der Junker”. Na gut. Ein Kölsch für den restlichen Weg muss dann doch noch drin sein. Das Zischen beim Öffnen der Flasche lässt mein Herz höher schlagen. Ich komme mit anderen FC-Fans ins Gespräch, philosophiere über den möglichen Ausgang des Spiels und freue mich gleichzeitig über die Sonne, die sich langsam durch die Wolken kämpft.

Abstand kennt hier keiner

Plötzlich spüre ich, wie mein Handy vibriert. Der GEISSBLOG informiert mich über die Aufstellung. Nichts kommt unerwartet, die Startelf bleibt im Vergleich zur Vorwoche unverändert. Warum auch nicht, schließlich hatte der FC am letzten Spieltag drei Punkte bei Borussia Mönchengladbach eingefahren. Gleichzeitig merke ich aber, wie mir die Zeit davon läuft. Einen guten Platz in S5, meinem Block in der Südkurve, werde ich jetzt kaum noch bekommen. Ich verabschiede mich von meinen neuen Bekanntschaften, wünsche viel Spaß beim Spiel und mache ich mich auf den Weg in Richtung Südwest-Eingang. Noch einmal an der Playa vorbei, hier wird es schon etwas enger. Aus dem Stadion-Inneren höre ich bereits die kölsche Musik, die Cheerleader des 1. FC Köln werden wohl gerade ihr Programm abspulen.

Ich stelle mich also an, dicht gedrängt, Abstand halten ist vor dem Einlass nicht mehr. Immerhin werde ich bei der ersten Sicherheitskontrolle durchgewunken, muss mich bei der weiblichen Security anstellen. Hier ist weitaus weniger los, sodass ich mich relativ schnell zum Drehkreuz vorkämpfen kann. Ich halte meine Dauerkarte unter den Sensor, warte auf das altbekannte Piepsen und und schon stehe ich drin: im Herzen des RheinEnergieStadions. Ein letzter Blick auf die Uhr: 15 Uhr, noch eine halbe Stunde bis zum Anpfiff. Ich muss eine schwierige Entscheidung treffen: Hole ich mir noch eine Stadionwurst und ein Kölsch oder gehe ich direkt rein? Ich entscheide mich für letzteres, zeige vor dem Eingang von S5/S6 noch einmal mein Ticket vor und blicke schließlich vom Zaun aus nach oben, um mir einen geeigneten Platz auszusuchen. Am liebsten weit oben, ansonsten habe ich zu viele Fahnen in meinem Sichtfeld. Noch unentschlossen werfe ich einen Blick auf den Rasen, wo die FC-Spieler gerade mit letzten Torschüssen ihr Warmmachen beenden. Anthony Modeste hat gerade einen Ball in den Winkel geschweißt. Mit einem guten Gefühl entscheide ich mich in diesem Moment noch einmal um, gehe wieder aus dem Block raus und stelle mich an einem der zahlreichen Essens-Stände an. Die Schlange ist relativ lang und irgendwie geht es nicht vorwärts. Als ich hungrig und langsam etwas nervös an der Reihe bin, höre ich schon aus dem Innenraum, wie Stadionsprecher Michael Trippel ankündigt: “Und hier, meine Damen und Herren, kommt die Mannschaftsaufstellung unseres 1. FUSSBALLCLUB…” Im Kopf sage ich es laut mit: “KÖLN”.

Meine Damen und Herren…

Jetzt aber schnell rein. Der Security halte ich meine Dauerkarte nur noch einmal kurz unter die Nase und husche vorbei. Schnell die Stufen hoch und irgendwo, wo noch Platz ist, reinrutschen. “Meine Damen und Herren, ich möchte Sie bitten sich von Ihren Plätzen zu erheben – für unsere Hymne.” Es geht los. Der Moment, den ganz Fußball-Deutschland wohl als den schönsten im RheinEnergieStadion beschreibt. Weitaus schöner, als das meiste, was in den 90 Minuten danach passiert. “Ihrefeld, Raderthal, Nippes, Poll, Esch, Pesch un Kalk, üvverall jitt et Fans vom FC Kööölle.” Wer da keine Gänsehaut bekommt oder nicht zumindest einmal schlucken muss, ist definitiv fehl am Platz. Selbst im Gäste-Block im Norden sieht man die Lichter der Handy-Kameras, die versuchen, diesen magischen Moment einzufangen. Ein größeres Kompliment gibt es kaum, finde ich.

Dann beginnt das Spiel. Es ist nicht besonderes. Zur Halbzeit steht es 0:0 gegen Mainz 05. Spielerische Fußball-Tristesse at it’s best. Aber so kennen wir das. Und irgendwie, der Gott weiß warum, lieben wir das. Die Stimmung ist trotz alledem mal wieder herausragend. Mitte der Zweiten Halbzeit fangen die Fans auf der Südkurve Arm in Arm an zu springen. “Das muss von den anderen Tribünen geil aussehen”, denke ich und spüre bei jeder Landung die Vibration, die Wucht der Betonstufen unter meinen Füßen. Zwischendurch ärgere ich mich über den Kölsch-Lieferanten, der zwar vielleicht den wichtigsten Job im Stadion hat, mir aber die Sicht versperrt. Ab und zu erwische ich mich auch dabei, wie ich die Augen rolle, weil ich den vermeintlichen Fußballsachverstand meiner Hinterleute nicht teilen kann. Doch das alles macht diesen Stadionbesuch aus, genauso wie der inzwischen angetrunkene Anhänger, der bei jedem Foul schreit: “Schiri, der hat schon Gelb” oder “Hub, Hub, Hubschraubereinsatz.” Das alles nehme ich zur Kenntnis und kann mir nicht vorstellen, wie es wäre, wenn ich das nicht alle zwei Wochen erleben könnte.

Doch nichts könnte egaler sein

Letztendlich endet die Partie torlos. Kein Torjingle, kein Kölle Alaaf. Kein Sieg. Aber das alles ist letztlich zweitrangig. Ich werde trotzdem glücklich nach Hause gehen, wohlwissend, auf meinem Heimweg die ein oder andere Szene mit mir fremden und doch bekannten Menschen noch einmal totzudiskutieren. Ich bleibe noch etwas stehen und warte, bis die Mannschaft ihre Ehrenrunde beendet hat. Viele Fans sind mittlerweile schon gegangen. Ich werde nie verstehen können, denke ich mir, wie man noch vor dem Abpfiff die Heimreise antreten kann. Aber gut, ich muss mich auch nicht in die volle Bahn quetschen oder stundenlang vor der Autobahnauffahrt im Stau stehen.

Ich beobachte, wie so langsam auch die Zaunfahnen abhängt werden und denke, dass ich mich nun auch auf den Weg machen sollte, während ich spüre, dass sich etwas verändert. Ich bekomme plötzlich schlechter Luft und ein eigenartiger, nach Krankenhaus riechender Duft steigt mir in die Nase. Ich überlege, ob ich vielleicht zu viel getrunken habe und reibe mir einmal kräftig durch die Augen. Doch plötzlich sehe ich: Ich bin ganz alleine. Dass ich schlechter Luft bekomme, liegt daran, dass ich eine Maske trage. Der beißende Geruch kommt von den zahlreichen Desinfektionsständern, die um mich herum aufgebaut sind. Dann fällt es mir wieder ein: Corona. Die Pandemie. Geisterspiele. Eine bleierne Schwere legt sich über mich. Es fühlt sich an wie ein Albtraum, aus dem man unbedingt aufwachen will, es aber nicht schafft. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass in diesem Moment nichts egaler sein könnte als ein Fußballspiel in der Bundesliga. In einer Zeit, in der innerhalb eines Jahres alleine hierzulande über 70.000 Menschen ihr Leben durch ein Virus gelassen haben, könnte mich nichts weniger aufwühlen als ein simples Fußballspiel. Und trotzdem ist es genau das, was mich und viele andere Menschen hoffen lässt. Denn der Tag wird kommen, an dem wieder 50.000 Menschen im RheinEnergieStadion und viele weitere in den umliegenden Kneipen gemeinsam die Hymne singen werden. Denn an diesem Tag wissen wir auch, dass wir ein Stück Normalität zurückgewonnen haben.

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