Der Absturz des 1. FC Köln empfinden viele Menschen in der Domstadt und der Fußballrepublik als absurd. Doch was bedeutet dieses Wort eigentlich? Und was können Effzeh-Fans von dem Mann lernen, der den Begriff des Absurden definiert und mit dem Mythos des Sisyphos in Verbindung gebracht hat? Ein Ausflug in die Philosophie des Absurden.
Albert Camus war ein Existentialist, ein Schriftsteller und Philosoph, einer der bedeutendsten Denker Frankreichs im 20. Jahrhundert. Er wurde mit dem Nobelpreis für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Er mag diese Würdigung als Krönung des Absurden empfunden haben. Doch mit seinen Ausführungen half er einigen Menschen, ihre existentiellen Probleme zu verstehen.
Sisyphusarbeit als Inbegriff des Absurden
Camus, 1913 im heutigen Algerien geboren, durchlebte eine Jugend und eine Zeit des jungen Erwachsenseins voller Enttäuschungen und Rückschläge: gesundheitlich, privat, beruflich, politisch. In seinem Studium der Philosophie begann er diese Misserfolge und Schicksalsschläge zu verarbeiten. Er begann sich mit der fundamentalen Frage der Philosophie zu beschäftigen: die Frage, “ob das Leben die Mühe, gelebt zu werden, lohne oder nicht”. Für Camus stellten sich die Welt und das Leben in ihr als prinzipiell bedeutungslos dar. In dieser allumfassenden Gleichgültigkeit des menschlichen Daseins läge, so Camus, das Absurde. Wenn die Welt allen trügerischen Sinn verlöre, den die Menschen ihr verliehen hätten, wenn alle Kulissen einstürzten, die aus menschlichen Erwartungen errichtet worden waren.
In Camus’ philosophischer Betrachtung sei es eine Kunst, in dieser Absurdität des eigentlich sinnlosen Lebens auszuharren – und sich davon nicht irritieren zu lassen. Die Menschen müssten dem Absurden die Treue halten und darin ihr Glück suchen. So wie ein Mann aus der Mythologie, der für Camus ein Leben führte, das bis heute als Inbegriff des Absurden steht: Sisyphos, die Figur aus der Unterwelt, die mehrfach den Tod austrickste und zur Strafe schließlich gezwungen wurde, auf ewig einen Felsblock einen Berg hinauf zu wälzen, auf dessen Gipfel er aber nie ankommen wird. Kurz vor Erreichen des Ziels gehen ihm die Kräfte aus, der Felsblock entgleitet ihm und rollt wieder zurück ins Tal.
Freiheit trotz fehlender Erfolgsaussichten
Das, was wir heute als Sisyphosarbeit kennen, stand für Camus im Mittelpunkt seiner Philosophie. Ein sinnloses Unterfangen, eine Aufgabe ohne Aussicht auf Erfolg. Und doch, so Camus, “müssen wir uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen”. Man könnte meinen, Camus habe versucht dem Schicksal auf diese Weise ein Schnippchen zu schlagen. Indem Sisyphos die Aufgabe an sich zu seinem Lebensinhalt macht und nicht das Ziel, das er nie erreichen wird, vereinnahmt er sein Schicksal für sich, nimmt es wieder in die Hand und entdeckt so eine neue Freiheit in seiner absurden Existenz.
Wir alle kennen diese Geschichte, und viele von uns kennen diesen Moment, wenn wir uns in unserem Tun mal wieder an Sisyphos erinnert fühlen. Man ackert und rackert, müht sich endlos, doch der Ertrag bleibt aus, ein Fortschritt ist nicht in Sicht und ein gutes Ende scheint kaum denkbar. Man spürt förmlich, wie einem der Felsblock entgleitet und ins Tal zurückzurollen droht. Die Fans des 1. FC Köln werden dieses Gefühl kennen.
Der moderne Sisyphos in Gestalt einer Fußballmannschaft
Camus schrieb, dass das Absurde “jeden beliebigen Menschen an jeder beliebigen Straßenecke anspringen” könne. In Köln gibt es eine besondere Straßenecke dafür. Dort steht das RheinEnergieStadion. Auf dem Rasen von Müngersdorf schuftet seit Jahrzehnten ein moderner Sisyphos in Gestalt einer Fußballmannschaft. Elf mythische Figuren mit dem Geissbock auf der Brust versuchen Saison für Saison, den Felsblock den Berg immer weiter hoch zu rollen. In den letzten Jahren gelang es ihnen gut. Auf Rang zwölf, auf Rang neun, auf Rang fünf kamen sie, ehe der Stein den Abgang machte. Doch nun kamen sie schon zu Saisonbeginn ins Straucheln. Der Stein ist ihnen sehr früh entglitten.
Am Wegesrand, je höher der Geissbock als moderner Sisyphos gekommen war, feuerten ihn mehr und mehr Fans in Rot und Weiß an. Die Anhänger wissen um sein Schicksal, um seine Aufgabe. Doch sie hoffen, wollen nicht daran glauben, dass das Glück des Effzeh sich nur auf den Weg bezieht, nicht aber auf den Gipfel. Tief in ihrem Innersten sind sie davon überzeugt, dass sich ihr Glaube an den modernen Sisyphos auszahlen wird, dass sich all die Anstrengungen auszahlen werden, auch, wenn es noch so aussichtslos erscheinen mag.
Tradition hat nur dann Sinn, wenn der Wille zu noch größeren Taten vorhanden ist
Die Qualifikation für Europa, das erste Mal nach 25 Jahren, in denen der Felsblock eher früher als später wieder entglitten war, galt als Hoffnungsschimmer, dass der Gipfel zumindest in Sicht kommen könnte. Am 13. Februar 2016 hatten die Fans diesen Erfolg vorhergesagt, vor dem Spiel gegen Eintracht Frankfurt in einer riesigen Geburtstags-Choreografie. Auf einem Banner stand geschrieben: “Tradition hat nur dann Sinn, wenn der Wille zu noch größeren Taten vorhanden ist.” Gesagt hat dies der Fußballphilosoph Franz Kremer. Albert Camus hätte ihm wohl widersprochen, und die laufende Saison hätte ihm darin Recht gegeben.
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